Die Frage, wie wir klimaneutral leben und wohnen, beantworten Quartiere. Sie sind nicht nur CO₂-neutral, sondern stehen auch für soziales Miteinander. Wir erklären, wie sie funktionieren.
Wir hatten 2018 die Idee auf eine klimaneutrale Energieversorgung zu setzen und jetzt ist es Wirklichkeit geworden.
Katja Liebmann sagt, sie sei Bürgermeisterin eines Wohlfühlortes in einer wunderschönen Gegend. Sie hat recht. Schlier in Oberschwaben liegt mitten in der Natur und schon von Weitem sieht man dem weißen Kirchturm und dem angrenzenden Bauernhof an, dass es persönlicher zugeht als beispielsweise in Berlin, Hamburg oder München – und manchmal auch innovativer: Mit ihrem kleinen Rathausteam hat Katja Liebmann das erste klimaneutrale Neubaugebiet Deutschlands geplant und entwickelt. Es wurde liebevoll „Am Bergle“ getauft. Anfangs stand der Bebauungsplan im Fokus. Es sollten nicht nur klassische Einfamilienhäuser entstehen, sondern auch sogenannte Gartenhofhäuser, die durch begrünte Fußwege verbunden sind und mehr Gemeinschaft ermöglichen.
Katja Liebmann entdeckte ein Ingenieurbüro im Nachbarort Weingarten, das sich mit modernen Energiekonzepten auskennt. Es kamen immer mehr Partner mit ihren jeweiligen Kompetenzen hinzu, unter anderem die EnBW. Das Ergebnis: Auf jedem Gebäude ist eine Photovoltaikanlage geplant, die für grünen Strom sorgt. Über Sonden in 80 m Tiefe und Wärmepumpen gelangt Erdwärme zum Heizen und passiven Kühlen in alle Haushalte. Auf Wunsch stehen auch Ladesäulen für Elektrofahrzeuge vor der Tür oder in der Tiefgarage.
Schon früh wurden die zukünftigen Bewohner*innen einbezogen. Nach der Vergabe der Grundstücke gab es viele Gespräche vor Ort über technische Details. Die Kommunikation per Brief oder Mail funktionierte gar nicht, Vertrauen und direkter Austausch schon. Aktuell sind 20 von 31 der Einfamilienhäuser im Bau. Der Verkauf der restlichen Wohneinheiten lief ebenfalls an und bei einem von der iQ-GmbH organisierten Fest im September 2021 hat sich die Nachbarschaft schon mal kennengelernt. Die Stimmung war gut. Auf die Frage, warum für sie nur ein klimaneutrales Neubaugebiet infrage kam, antwortet Katja Liebmann: „Die Zeichen der Zeit haben inzwischen alle erkannt. Bei uns sind die heißen Sommer schon lange ein Thema. Das macht die Klimaveränderung im wahrsten Sinne des Wortes spürbar. Auch bundes- und landespolitisch nimmt Klimaschutz immer mehr Raum ein. Gemeinden und Städte kommen an diesem Thema gar nicht mehr vorbei. Wir müssen uns davon verabschieden, Wohngebiete oder Gewerbegebiete von der Stange zu entwerfen, so wie wir das früher gemacht haben. Ich finde Verwaltung und Politik müssen vorangehen und sagen: ‚Wir packen das jetzt an.‘“
Katja Liebmann freut sich sehr über das neue Quartier: „Wir hatten 2018 die Idee, auf eine klimaneutrale Energieversorgung zu setzen, und jetzt ist es Wirklichkeit geworden. Das Projekt ‚Am Bergle‘ war rechtlich und technisch herausfordernd für meine Rathausmannschaft und mich. In dieser Größenordnung wurde so ein Konzept noch nie umgesetzt. Deswegen war es Pionierarbeit, aber wir haben es zusammen mit allen Beteiligten gemeistert. Und das macht meine Arbeit aus: immer wieder etwas Neues anzugehen und nicht nur die Dinge, die auf meinem Tisch landen, abzuarbeiten. Gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern die Zukunft unserer Gemeinde gestalten, das macht mir riesigen Spaß.“
Klimaschutz ist nicht die einzige Herausforderung für Kommunen: Soziale Integration, Bildung, Wohnungsbau, Digitalisierung und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit haben ebenfalls eine sehr hohe Priorität. Quartiere verbinden soziale und technische Themen miteinander, indem sich eine Gruppe von Menschen für ein Zusammenleben entscheidet, das auf gemeinsamen Werten der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen fußt. Laut einer Studie des Zukunftsinstituts bilden Dörfer, Quartiere und dorfartige Gemeinschaften wichtige Bausteine einer gesunden sozialen Umwelt und sind elementar für den Klimaschutz. Wir befinden uns mitten im Comeback solcher Formen des Zusammenlebens.
Erdwärme ist charmant, weil sie schornsteinfrei ist.
Stefanie von Andrian leitet bei der EnBW den Bereich Urbane Infrastruktur. Sie ist davon überzeugt, dass neue Quartiere ein Schlüssel zur Klimawende sind, weil es möglich ist, die Energieversorgung von Anfang an nachhaltig zu planen. Mobilitätskonzepte werden neu entworfen oder sinnvoll mit bestehenden Angeboten umliegender Gebiete verknüpft, zum Beispiel beim Carsharing. Zu Beginn eines neuen Projekts setzt Stefanie von Andrian mit ihrem Team die passenden Puzzlestücke zusammen: „Für die Stromversorgung nutzen wir generell Photovoltaik. Es ist gesetzlich vorgegeben, dass ein gewisser Anteil der Dachflächen damit ausgestattet ist. Bei Wärme gehen wir flexibler vor. Erdwärme ist charmant, weil sie schornsteinfrei ist. Es entsteht kein CO₂, wenn Wärmepumpen mit grünem Strom betrieben werden. Aber es gibt auch Gegenden, in denen das nicht funktioniert, weil die Erdwärme nicht ausreicht. In den Fällen nutzen wir zum Beispiel Wärme, die im Abwasser steckt, oder Wasserkraft, wenn ein Fluss in der Nähe ist. Das ist immer auch eine kreative Aufgabe.“
Sobald erste Konzepte stehen, sucht die EnBW Kontakt zu den zukünftigen Quartiersbewohner*innen. Stefanie von Andrian erklärt: „Wir machen Bürgerwerkstätten und Workshops in Gemeinderäten, weil wir so erfahren, was die Menschen sich wünschen, und unsere Überlegungen entsprechend ergänzen. Außerdem binden sich die Menschen an ihr Quartier viel stärker, wenn sie sich beteiligen können.“
Es ist einfacher, jetzt lokal auf sich verändernde Umweltrahmenbedingungen zu reagieren als das ganze System neu zu programmieren.
Andreas Hofer ist Architekt und Intendant der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27). Er findet die Entwicklung der EnBW vom klassischen Versorger zum Gestalter urbaner Lebensräume spannend: „Es ist für mich faszinierend, dass ein Energieversorger, der selbst in einem unglaublichen Transformationsprozess steckt, jetzt so intensiv mit seinen Endkund*innen in den Kontakt geht und eine Beziehung aufbaut. Die EnBW erfährt, wo die Produkte ankommen in der physischen Welt, und bekommt die Chance, ihr Angebot noch genauer an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen.“ Auch für Andreas Hofer sind Quartiere ein wichtiger Baustein der Energiewende: „Es ist einfacher, jetzt lokal auf sich verändernde Umweltrahmenbedingungen zu reagieren, als das ganze System neu zu programmieren. Das könnten wir vermutlich gar nicht stemmen.“
Die Quartiersentwicklung auf dem ehemaligen Werksgelände „Stöckach“ der EnBW im Stuttgarter Osten ist ein Projekt der IBA’27. Hier kümmert sich die EnBW nicht nur um die Infrastruktur, sondern ist auch Bauherr. Auf rund 60.000 m² Wohnfläche sollen etwa 800 Wohnungen mitten in der Stadt entstehen, verbunden mit Angeboten für soziales Miteinander, Freizeit, Nahversorgung, Gesundheit und Mobilität. Andreas Hofer beschreibt es so: „Der Ort ist schön, war aber über 100 Jahre abgesperrt. Nun wird er der Stadt zurückgegeben. Eine sehr gute Geste. Die EnBW hat sich vor Ort gezeigt und die Stimme der Menschen gehört, das ist in die Aufgabenstellung für den Architekturwettbewerb eingeflossen. Aus dem unzugänglichen Werksgelände wird jetzt ein neues Herz für den ganzen Stadtteil – mit einem Platz in der Mitte des neuen Quartiers, der von allen Seiten zugänglich ist. Der Raum öffnet sich.“